Neustart in den Tagespflegen - ein ZEIT Artikel

Lesen Sie hier in einem ZEIT Artikel vom 29. Oktober 2020 wie sich der Alltag unter anderem in der Tagespflege St. Georg während der Corona-Pandemie gestaltet.

Testen, testen, testen

Die Strategie, Hamburgs Senioren vor dem Corona-Virus zu schützen, klingt einfach. Aber sie stellt  Einrichtungen und Behörden vor ganz neue Herausforderungen

VON NIKE HEINEN

Es ist ein besonders sonniger Tag in Alten Eichen, und mit sonnig ist nicht nur das Wetter gemeint. Die Runde, die in der Tagespflegeeinrichtung in St. Georg sitzt, sieht ungemein fröhlich aus. Vor allem die Frau vor dem Fenster, deren rote Bäckchen leuchten wie reife Äpfel am Baum. »Prima ist das«, sagt sie mit rollender Hamburger Zunge. »Mal was anderes nach dem Stubenhocken, endlich wieder raus. Und klönen!«
Seit September läuft in allen 47 Hamburger Tagespflegen wieder normaler Betrieb, unter strikten Auflagen: kein Singen, kein Tanzen, keine Brettspiele, das Gesundheitsamt fürchtet überall Infektionsquellen. In einer aktuellen  Statistik des Robert Koch-Instituts über die Orte, an denen sich Menschen mit Covid-19 anstecken, stechen Einrichtungen für Senioren klar heraus. Nirgendwo sonst in-fizierten sich so viele Personen wie in Pflegeheimen und Altentagesstätten. Bei jedem Ausbruch waren im Schnitt 18 bis 19 Menschen betroffen. Und trotzdem müssen sie jetzt alle einen Weg finden, wie sie ohne Shutdown über den Winter kommen. Birgit Fenner, die Leiterin der Einrichtung, denkt mit Schrecken an die vergangenen Monate zurück. Die Einsamkeit setzte ihren Schützlingen zu, viele stürzten und mussten ins Pflegeheim, andere starben. Und die, die sie jetzt nach Monaten zum ersten Mal wiedersieht, sind nicht nur klappriger geworden, sondern oft auch wirrer.
Aber so wichtig Kontakte sind, so lebensgefährlich können sie im Moment sein. Das Durchschnittsalter der deutschen Corona-Toten liegt bei 82 Jahren. In Alten Eichen versuchen sie, die Lage mit Wattestäbchen im Griff zu behalten: Seit der Wiedereröffnung wird einmal pro Woche getestet.
Morgens ein Abstrich tief hinten im Hals, dann bringt ein Bote die Stäbchen ins Labor. In allen Hamburger Tagespflegen ist das im Moment so. Bisher ist es nur ein Versuch; noch ist nicht klar, ob die Strategie funktioniert. Vor allem jetzt: Der September war sonnig, im Oktober wurde es kälter, das Risiko, sich anzustecken, steigt. Wächst das dem Verwaltungsapparat über den Kopf? Etwa 2200 Hamburgerinnen und Hamburger besuchen derzeit eine Tagespflege, 18.000 wohnen in stationären Einrichtungen. Als Hamburg am 19. Oktober offiziell Corona-Risikogebiet wurde, hatten die Experten im Institut für Hygiene gerade erst begonnen, ein Konzept für Reihentestungen in den Einrichtungen zu schreiben. Warum so spät? »Zu viele verschleppte Baustellen und ein entsprechend langer Stau«, sagt ein Heimleiter, der nicht namentlich genannt werden möchte.

Pflege geht nicht ohne langwierigen Papierkram«, sagt Christian Bergmann

Schon seit Monaten fordern Wissenschaftler vorsorgliche Tests in Pflegeeinrichtungen. Deren »Gäste«, wie die Bewohner genannt werden, sind meist noch gebrechlicher als jene in Alten Eichen. Wer Leben retten will, der muss Ausbrüche hier nicht nachverfolgen, sondern verhindern. Die üblichen PCR-Nachweise können das nicht leisten: Mit allem Drumherum nimmt ihre Auswertung in Hamburg bis zu drei Tage in Anspruch. Technisch gibt es längst eine andere Lösung: Antigenschnelltests, Teststreifen, so einfach wie ein Schwangerschaftstest. Sie könnten infektiöses Personal und ansteckende Besucher schon an der Tür identifizieren.
Den Sommer über war ein seltsames Schauspiel zu beobachten. Während andere Länder die Tests bereits als Zutrittskontrolle für alle möglichen kritischen Situa tio nen zum Einsatz brachten, hörte man in Deutschland vor allem Argumente dagegen. Die Tests seien viel zu ungenau, sagten die Kritiker. Dass das vor allem Ärztevertreter waren, sei kein Zufall, sagt Jonas Schmidt-Chanasit, Virologe am Bernhard- Nocht-Institut. »Es sind ja Ärzte, die die klinischen Labore leiten, in denen man mit den bisher üblichen PCR-Tests im Moment so viel Geld verdient. Anti-gentests sind ungenauer, aber das kann man bei der Teststrategie ja berücksichtigen.« Etwa, indem Virennachweise aus dem Antigentest noch einmal mit der PCR überprüft werden. Erst am 14. Oktober veröffentlichte das Robert Koch-Institut eine neue Test-strategie, in der erstmals Antigentests vorgesehen sind – in Pflegeeinrichtungen werden sie zum vorsorglichen Testen nun ausdrücklich empfohlen. Seit dem 26. Oktober gilt in Hamburg auch die Testpflicht in den Heimen.
Dann kann es jetzt ja losgehen, oder? »Die Verordnung bietet die Grundlage, nun die Testkonzepte zu erstellen. Dass diese nun bereits final vorliegen, ist nicht erforderlich«, erklärt Martin Helfrich, Sprecher der Gesundheitsbehörde. Christian Bergmann, Leiter des Theodor-Fliedner-Hauses in Bramfeld, einer Pflegeeinrichtung, in der auch viele schwerkranke, vor allem demente Menschen leben, rechnet nicht vor Ende November mit einer Test-Schranke an seiner Tür. »Pflege geht nicht ohne langwierigen Papierkram. Bevor wir so ein Testregime durchführen dürfen, muss es das Gesundheitsamt genehmigen. Uns wurde gesagt, dass das etwa vier Wochen dauern wird. Aber zur Genehmigung müssen wir ein detailliertes Konzept haben.« Vorlage dafür ist das Modellkonzept, an dem das Hygieneinstitut erst seit Kurzem arbeitet.
Allein bei diesem Träger, der Diakonie, gibt es 5000 Plätze für vollstationäre Pflege. Katrin Kell, Fachbereichsleiterin Pflege, jongliert gerade mit ganz großen Zahlen: Wenn die Heime, wie aus Berlin empfohlen, alle im Haus einmal pro Woche testen, würden sie 100.000 Tests im Monat verbrauchen. »Uns ist noch nicht klar, wo wir die herbekommen sollen.« Auch die Liste mit den Tests, die die Krankenkassen anerkennen müssen, ist noch ganz frisch. Erstattet würden 7 Euro pro Test. Aber die Pharmavertreter, die sich jetzt täglich  bei den Heimleitern vorstellen, nennen oft höhere Preise, bis zu 20 Euro.

Das Testen würde viel Zeit kosten, die dann in der Pflege fehlt

Und ein vollkommen ungelöstes Problem ist ja die Personalfrage«, sagt Bergmann. Einverständniserklärungen einholen, die Leute rechtzeitig abpassen, die Tests durchführen – er hat überschlagen, dass das bei ihm im Haus zwei ganze Arbeitstage kosten würde. »Es gibt aber keine zusätzlichen Stellen, das ist dann Zeit, die wieder in der Pflege fehlt. Und das, wo wir da ohnehin gerade ungewöhnliche Umstände haben.« Angehörige dürfen zwar jetzt wieder zu Besuch kommen, aber auf Abstand, Körperkontakt ist nur 15 Minuten lang erlaubt. Bergmann sagt, dass man diesen Unterschied im Pflegealltag merkt: »Früher halfen viele Familien bei der Pflege mit. Jetzt geht das nicht mehr, unsere Teams müssen wirklich alles alleine machen.«
Angesichts der so deutlich steigenden Zahlen ist Bergmann hin- und hergerissen zwischen Sorge und Zuversicht. Inzwischen tragen alle Mitarbeiter bei der Arbeit virendichte FFP2-Masken, es gibt auch genügend Schutzkleidung. Aber er würde gern mehr testen, jetzt gleich, nicht erst Ende November. »Wie man die Masken richtig trägt, ist ein Dauerthema bei uns«, sagt er. »Und wir müssen immer wieder feststellen, dass Besucher sie im Zimmer einfach abnehmen, weil sie denken, wir merken das nicht. Neulich habe ich tatsächlich einen Herrn entdeckt, der versuchte, über den Balkon in das Zimmer seiner Mutter zu kommen, natürlich ohne Maske. Dabei sind Besuche ja erlaubt, sie müssen eben nur angemeldet werden.«

Schon gibt es wieder erste Ausbrüche in Pflegeeinrichtungen. In der dritten Oktoberwoche waren es acht, davon drei große, mit 31, 27 und 23 betroffenen Bewohnern. Die Pflegeleitung eines der betroffenen Heime erzählt hörbar irritiert, wie das zuständige Gesundheitsamt den Ausbruch handhabt. Zu Beginn schien nur ein Bewohner infiziert zu sein, er hatte sein Zimmer schon seit Tagen nicht mehr verlassen, niemand weiß bisher, wo er sich angesteckt hat. Im Frühjahr seien in solchen Fällen sofort alle Bewohner getestet worden, um ja nichts zu übersehen. Jetzt scheint es eine neue Priorisierung zu geben: »Die erste Liste von Kontaktpersonen war dem Gesundheitsamt zu ungenau, wir mussten sie mehrfach herunterkürzen, bis nur noch die wahrscheinlichsten Kontaktpersonen auf der Liste standen«, heißt es aus der Pflegeleitung. Einer der Streitpunkte: Müssen wirklich alle Stationen getestet werden, die die Mitarbeiter betreten haben, die auch in dem infektiösen Zimmer waren? Sie hätten ja schließlich Masken getragen.
Inzwischen ist klar: Auch in den Heimen mit den großen Ausbrüchen wurde mit FFP2-Masken, Kitteln, Handschuhen gepflegt. Über all dem Nachsortieren verging Zeit – Zeit, in der sich die Viren weiterverbreiten konnten. Die Tests wurden erst nach mehreren Tagen veranlasst, und nach weiteren Tagen wurde klar, dass es noch mehrere, ebenfalls ganz unauffällige Infektionen gegeben hatte. »Ich fürchte«, sagt die Stimme am Telefon, »bei dem, was da gerade auf uns zukommt, bekommen wir das so nicht eingefangen. Bei diesem Virus muss man schnell sein.«

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